Grußwort zur Bilderbroschüre "felder" von Sabine Seemann

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Diese Bilderbroschüre enthält Abbildungen von neun neueren Arbeiten von Sabine Seemann: von der Serie der sechs Maisfelder von 2011 und den Gemälden grossland, blausucht und übergossen von 2012. Der Titel der Bilderbroschüre – Felder – ist glücklich gewählt. Er ist schlicht und schön. So schlicht und schön, wie es diese nicht-narrativen und sehr sinnlichen, puristischen und sehr physischen Gemälde sind. Er ist aber auch doppeldeutig. So doppeldeutig, wie es die Bilder von Sabine Seemann sind. Sie sind zum einen – in sechs von neun Fällen – Felder im wortwörtlichen Sinne von: Maisfelder. Und sie sind zum anderen Felder im Sinne von: Farbfelder.

Die Doppeldeutigkeit ist eine Folge dessen, dass ein Bild ein Zeichen ist: etwas, das für etwas Anderes steht. „Ein Bild ist, bevor es ein Schlachtpferd ist, ein Akt oder eine Anekdote, wesentlich eine ebene Fläche, die in einer bestimmten Weise mit Farben versehen worden ist.“ Dies trifft auch auf die Bilder von Sabine Seemann zu. Auch wenn ihre Werke weder Historienbilder sind, noch Aktbilder, noch Anekdoten. Ihre Gemälde sind überwiegend Landschaftsgemälde. Farbfelder, die für Maisfelder stehen. Sie sind, wie ein anderer Künstler es formulierte, als kulturelle Produkte – als Hervorbringungen ackerbaulicher Art, so will es die Wortgeschichte – eine Parallele zur Natur. Um eine solche Parallele geht es Sabine Seemann. Sie formt die Materie der Farben, sie modelliert Farbmassen, um der Materie Erde, Pflanze und Himmel eine Form zu geben. Wegen der Farbmassen wirken die Bilder schwer. Als gehörten sie eher der Bildhauerei als der Malerei an. Die Farbschwere mag auch für die Erdschwere stehen. Durch die Plastizität des Farbreliefs ist die Tiefenräumlichkeit nicht nur eine Illusion, sondern eine reale räumliche Dimension zusätzlich zu den üblichen Dimensionen Höhe und Breite für ein Gemäldeformat. Die Tiefenräumlichkeit zieht die Bildbetrachter ans Bild, respektive ihre Blicke ins Bild. In der Nahsicht ergeben sich bei Bewegung entlang der Farbreliefs, entlang der Berge und Täler der modellierten Farbmaterie, wieder und wieder neue Einblicke in die Bilder. Die Farbmaterie ist nicht nur vorn auf den mit Nessel bespannten Keilrahmen aufgetragen, sondern auch seitlich, sodass auch die Seitenansichten Teil der Bildbetrachtung sind. Die Miteinbeziehung der Ränder steigert den Eindruck der Tiefenräumlichkeit sowohl dadurch, dass die Tiefe des Bildträgers zum Bestandteil der Tiefe des Bildraums wird, als auch dadurch, dass die Farben die Grenzen des Bildträgers sprengen. So messen die einzelnen bespannten Keilrahmen der sechs Maisfelder-Triptychen zwar alle je 40 mal 30 cm, die Farben aber überfüllen dieses Format ab und an um bis zu 3 cm. Die Bilder wirken geradezu körperlich. Die Körperlichkeit ist zum einen ein Effekt der Malmaterie und zum anderen ein Effekt des Malprozesses. Den Gemälden ist anzusehen, dass sie gemalt wurden, dass sie mit Pinsel und Malmesser plastisch geformt wurden. Das Durchpflügen der Farbe mag für das Durchpflügen der Erde stehen. Farbfelder als Zeichen für Maisfelder.

Was die Zeichenhaftigkeit betrifft ist die Serie der sechs Maisfelder insofern sehr interessant, als dass sie anschaulich macht, wie ein Bild mal mehr ein Abbild ist und mal mehr ein Bild um seiner selbst willen. So erfüllen die erste und die letzte Fassung eher die Zeichenfunktion, insbesondere die letzte, da die Farben Gelb und Grün des Farbfeldes den Farben eines Maisfeldes entsprechen. Hingegen entfernt sich das Maisfeld IV am weitesten von der Zeichenfunktion. Valeurs von Blau und Blaugrün stehen sowohl für den Himmel als auch für das Feld. Hier wird mehr die Farbigkeit an sich gefeiert, der Gestus des Malens, die Malerei um ihrer selbst willen. Mehr l’art pour l’art als der Verweis des Gemäldes auf etwas Anderes.

Dieses Pendeln zwischen den Polen kennzeichnet auch die Bilder grossland und übergossen. So ist grossland als Landschaft, vielleicht auch als das Wattenmeer zu erkennen, über dem sich ein Gewitter entlädt. Die Wucht der Farben steht für die Wucht des Unwetters. Das Werk ist 130 x 160 cm groß, was die Wirkung weiter steigert. Ein elementares, massives Farbenmeer als Zeichen für die Erhabenheit des Natureindrucks. übergossen hingegen scheint kein Zeichen für etwas zu sein. Außer ein Zeichen für sich selbst. Für Farben, die übereinander gegossen wurden. Und dennoch: Ist nicht auch denkbar, dass übergossen ein vergrößerter Ausschnitt ist aus grossland? Ein Abbild eines Starkregens auf einen Acker oder das Watt? Wasser von oben, das den Boden unten traktiert, modelliert, formt?

Eine Ausnahme innerhalb dieses Heftes ist das Bild blausucht. Es gehört zu der Gattung des Porträts, nicht, wie die anderen acht Bilder, zu derjenigen der Landschaft. Was die Zeichenhaftigkeit betrifft gibt es bei blausucht zwar Formen für ein Augenpaar, eine Nase und einen Mund, nicht aber Formen für die Physiognome einer bestimmten Person. blausucht ist nicht so sehr ein Bildnis eines Menschen, eher ein Bild der Passion von Sabine Seemann für eine Farbe, für Blau. Diese Farbe zieht sich auch durch die anderen Arbeiten, die Landschaften, hier durch das Porträt. In dieser Hinsicht ist blausucht keine Ausnahme. So nützlich die Gattungsgrenzen sind – die Bilder von Sabine Seemann überschreiten sie. Eine Furche kann sich sowohl in ein Feld als auch in ein Gesicht eingraben, ebenso in ein Farbfeld als Zeichen für ein Feld oder für ein Gesicht.

„Die Landschaft aber steht ohne Hände da und hat kein Gesicht, – oder aber sie ist ganz Gesicht“, schrieb Rainer Maria Rilke 1903 in Worpswede, dem Buch über die Künstlerkolonie; ebendort schrieb er über die Bewohner dieses Landstrichs: „Alle haben nur ein Gesicht: das harte Gesicht, gespannte Gesicht der Arbeit“. Sabine Seemann packt diese Phänomene in ihre Werke. Sie arbeitet an und mit der Physis von Land und Leuten, an und mit der „Vergesichtlichung“ der Landschaft wie der „Verlandschaftung“ des Bildnisses.

Zuletzt zurück zu den Farbfeldern, den Maisfeldern. Wer durch ein Maisfeld ging oder darin stand, der wird wissen, dass dies eine sehr sinnliche, sehr reizvolle Erfahrung ist. Nicht nur für die Augen. Für den Menschen insgesamt, der umgeben ist von Pflanzen, die womöglich größer sind als er. Für die Füße und Hände. Für die Nase. Und auch für den Gaumen derjenigen, die den Mais essen. Auch die Maisfelder von Sabine Seemann reizen mehrere Sinne. Als Bilder selbstverständlich den Sehsinn. Als körperliches Gegenüber – Farbfelder als Farbkörper – den Tastsinn. Und sie reizen durch das Aroma, welches das Leinöl verströmt, den Geruchssinn. So sind die Bilder schlicht und schön, ästhetisch und synästhetisch.

 

Dr. Frank Laukötter